Psychosomatik
Neurobiologisch fundiert und evidenzbasiert
Prof. Ulrich T. Egle im Gespräch über das neue Herausgeberwerk und „Psychosomatik 4.0“
Was sind die Besonderheiten des von Ihnen als „Psychosomatik 4.0“ bezeichneten Modells?
„Psychosomatik 4.0“ stand in dem 6-jährigen Vorbereitungszeitraum unseres Buchs für den Beginn einer neuen wissenschaftlichen Entwicklungsphase der Psychosomatik.
Bezogen auf die drei vorausgegangenen Phasen – die psychoanalytische, die verhaltensmedizinische („bio-behaviorale“) und die psychophysiologische – stellt diese 4. Phase in vielerlei Hinsicht mit ihrer Verankerung in der neurobiologischen, aber auch in anderen Bereichen der medizinischen und psychologischen Grundlagenforschung geradezu einen Paradigmenwechsel dar, der in der Praxis bisher noch wenig angekommen ist.
Welches Ziel verfolgen Sie mit diesem Buch und wen möchten Sie damit ansprechen?
Wie immer bei Hand- und Lehrbüchern geht es um eine Bestandsaufnahme des aktuellen Wissens im jeweiligen Fachgebiet sowie die Erkennung von Forschungsdesideraten. Da wir wissen, dass sich viele Kolleginnen und Kollegen im Bereich von Psychosomatik und Psychotherapie, die zu Beginn ihrer teilweise langjährigen beruflichen Weiterbildung durch die theoretischen Konzepte von Psychotherapie-Schulen geprägt wurden, mit einer grundlegend neuen Sicht von psychosomatischen Erkrankungen nicht leicht tun werden, richtet sich das Buch in erster Linie an jene, die noch am Beginn ihrer Weiterbildung stehen, und jene, die für die Ausgestaltung deren Weiterbildung verantwortlich sind.
Was bedeutet das bio-psycho-soziale Krankheitsmodell für die Psychosomatische Medizin der Zukunft?
Das bio-psycho-soziale Krankheitsmodell war zunächst eine theoretische Konzeption, die sich aus klinischen Beobachtungen ableitete. In den letzten 20 Jahren ist das Modell durch die Grundlagenforschung empirisch sehr gut belegt worden. Damit hat die Psychosomatik eine solide wissenschaftliche Fundierung bekommen – auch wenn noch nicht alles, was unter Psychosomatik firmiert, dem immer gerecht wird. Aber genau das soll sich durch die Inhalte des Buchs künftig ändern. Dies gilt ganz besonders für die Therapie. Durch ein differenzierteres Verständnis der Entstehungsmechanismen können künftig bio-psycho-soziale Therapiekonzepte für einzelne Krankheitsbilder gezielter entwickelt werden.
In wieweit verändert sich das Arzt-Patient-Verhältnis durch ein bio-psycho-soziales Krankheitsverständnis?
Das bio-psycho-soziale Krankheitsverständnis impliziert eine Veränderung der ärztlichen Rolle: im bio-medizinischen Modell ist der Arzt – vergleichbar mit einem naturwissenschaftlichen Forscher – in der Rolle des distanzierten Beobachters, der vor dem Hintergrund seines Wissens um biologische Krankheitsmechanismen („Ätio-Pathogenese“) die Beschwerdeschilderungen des Patienten, seine körperlichen Untersuchungsbefunde sowie die technisch-apparativ gewonnenen chemischen und physikalischen Befunde miteinander in Verbindung setzt, um sie zu bewerten und zu klassifizieren. Die Erweiterung der Informationsgewinnung um die psychosoziale Dimension, d.h. die individuellen Kontextfaktoren und das emotionale Erleben des Patienten vor dem Hintergrund seiner biografischen Prägungen, verändern auch die Rolle des distanzierten Beobachters: affektive Faktoren nehmen Einfluss auf die Beziehung, subjektives Erleben ist in das ärztliche Rollenverhalten zu integrieren – und idealerweise für Diagnostik und Therapie zu nutzen. Dieser „patientenzentrierte“ Ansatz führt im Vergleich zum „krankheitszentrierten“ des bio-medizinischen Modells auch zu einer erheblichen Verringerung der Asymmetrie in der Arzt-Patient-Beziehung. Dies schlägt sich in einer zunehmenden Reflexion über die Rolle eines Arztes im interpersonellen Geschehen wie auch in der partizipativen Entscheidungsfindung nieder.
Sie thematisieren im Band auch die Frage nach dem allgemeinen Verständnis von „Gesundheit“ und „Krankheit“ – wie unterscheidet sich der psychosomatische Blick auf diese Bereiche?
Die salutogenetisch wirksamen Ressourcen des Patienten können im bio-psycho-sozialen Verständnis von Krankheit und Gesundheit viel besser berücksichtigt werden, was für die Prävention konkrete Ansatzpunkte liefert und gerade bei der steigenden Zahl chronischer Erkrankungen für rehabilitative Maßnahmen besonders bedeutsam ist.
Noch eine letzte Frage: Was möchten Sie Ihren Leserinnen und Lesern mitgeben, bevor sie das Buch zum ersten Mal aufschlagen?
Seien Sie neugierig, versuchen Sie tradierte Vorstellungsmodelle von Psychotherapieschulen zur Psychosomatik beiseite zu legen und lassen Sie sich auf die „neue“ Psychosomatik ein!
Vielen Dank für Ihre Zeit und Mühe!
Egle/Heim/Strauß/von Känel (Hrsg.)
Psychosomatik
Neurobiologisch fundiert und evidenzbasiert
Ein Lehr- und Handbuch
2020. 860 Seiten mit 113 Abb. und 70 Tab. Fester Einband
€ 149,–
ISBN 978-3-17-030663-9